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Kunstwart und Kulturwart — 27,4.1914

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Heft 19 (1. Juliheft 1914)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14290#0085

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And der rechtlichen, selbstverständ-
lich.

Ls wären also nur geeignete
Formen nötig, und die Verbesserung
der sittlichen Beziehungen würde
sich als Nebenprodukt sozusagen von
selbst ergeben? — Nein, ich sehe den
Arsprung des sozialen Problems
nicht in einem äußerlich abstellbaren
Mangel, sondern in dem wachsenden
Mißverhältnis zwischen Kultur und
Zivilisation. Weil die tzerrschaft des
Menschen über seine eigene Natur
nicht Schritt hielt mit der wachsenden
technischen Verfügung über die Na-
turkräfte, weil wir geistig und sitt-
lich dieser ungeheuren Machtvermeh-
rung nicht gewachsen sind, weil all
unser Wissen und Können nicht hin-
reicht, die zivilisatorischen Errungen-
schaften der Sorge um den inneren
Menschen, der Vertiefung der Kul-
tur dienstbar zu machen, deshalb
haben wir eine „soziale Frage".

Also wäre Ihre soziale Frage ge-
radezu ein religiöses Problem?

Ia — „geradezu«.

And welches sind, von da aus
gesehen, die sozialen Aufgaben?

Die Arbeit an der Erziehung des
Volks.

Also Volksbildung, Aufklärung
und . . .

Nein: Willenserziehung.

Wilhelm Heinz

Norddeutsch, Süddeutsch
«nd die Sozialdemokratie

ieser Tage legte die „Vossische
Zeitung^ unsern „staatserhalten-
den" Parteiführern die Frage vor,
woher es wohl komme, daß in keinem
Staat eine so starke und rabiate
Sozialdemokratie bestehe wie im
Deutschen Reiche; und sie antwor-
tete: weil in England, in Italien,
Frankreich und der Schweiz demo-
kratische und parlamentarische Grund-
sätze herrschen und zudem in der
Schweiz und in Frankreich auch So-
zialisten in führende Staatsämter

berufen werden; wogegen bei uns,
„im Iunkerstaat", ein Genosse kaum
als Mitglied einer Stadtschulkom-
mission oder als Stadtrat bestätigt
wird. Der Aufsatz schloß: „Iede Re-
gierung hat die Sozialdemokratie,
die sie verdient.«

Könnte man nicht mit demselben
Recht und gerade augenblicklich mit
besonderem Grunde sagen, jede So-
zialdemokratie habe die Regierung,
die sie verdient? Statt aber das
eine oder das andere allgemein
und ausschließlich zu behaupten,
sollte man auch einmal fragen, ob
nicht durch die Vergangenheit unse-
res Volkes und SLaates der ganze
Volkscharakter eigentümliche Anter-
schiede gegenüber andern Ländern
ausgeprägt habe, die sich eben auch
in unsern Sozialisten zeigen.

Bleiben wir in Deutschland, so
sehen wir zweifellos, daß schon die
süddeutsche Sozialdemokratie „ge-
mütlicher^ ist als die norddeutsche.
Sollte das aber nur daran liegen,
daß in Süddeutschland (von der na-
poleonischen Zeit her) demokratische
Einrichtungen und Denkweisen dem
ganzen Volke mehr gewohnt sind
als im Norden und daher die radi-
kal-demokratischen Anschauungen
nicht so straff vertreten werden? Ge-
wiß spielt das mit; aber das eigen-
tümliche süddeutsche Wesen ist noch
älter als die politischen Einrichtungen
des neunzehnten Iahrhunderts, es
liegt im Volkscharakter wie in
der ganzen Geschichte begründet.
Die süddeutschen Sozialdemokraten
sind selber von Anfang an genau
so gut Süddeutsche wie die dortigen
„Bürgerlichen^, sie treten schon von
sich aus nicht so scharf und schroff
auf wie die norddeutschen. Die
„Großblockpolitik^, die in Süd-
deutschland ja viel mehr ertragen
wird als bei uns, erklärt sich also
nicht bloß aus einer besonderen
Nachgiebigkeit oder „politischen Kno-
chenerweichung^ des Bürgertums.

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